Wenn Opfer die Täter pflegen (müssen)
Aber was wenn nicht? Was, wenn deine Eltern dir gegenüber narzisstisch und/oder missbräuchlich waren? Entweder offen, in Form von physischer oder sexueller Gewalt oder – und das ist extrem viel häufiger – in Form von bewusstem oder unbewusstem seelischen Missbrauch?
Dann wird das Thema hochkomplex und geht oft nicht gut aus. Für beide Seiten nicht. Genau darum soll es im folgenden Artikel überwiegend gehen.
Denn wenn zur Belastung durch die Pflege an sich noch unbewusste Abhängigkeiten, narzisstische Verhaltensweisen und gegenseitiges Unterdrucksetzen kommen, dann wird das ganze Konstrukt gefährlich bis hin zur Selbstaufgabe des Pflegenden.
Solche Abhängigkeitsverhältnisse gibt es beileibe nicht nur wenn es um die Pflege geht. Oft genug üben die eigenen Eltern viel subtiler Macht aus. Lassen ihre längst erwachsenen Kinder wie Marionetten tanzen. Bringen sie dazu, Dinge zu tun die sie von alleine niemals getan hätten. Manchmal bewusst und manchmal unbewusst.
Aber es gibt Wege da raus, wenn du bereit bist, bei dir selbst anzusetzen – einen anderen Ansatz gibt es eh nicht – und die Muster zu lösen die dahinterstehen. Denn anders als in deiner Kindheit bist du jetzt nicht mehr ausgeliefert. Es fühlt sich noch so an, ist aber nicht mehr so. Es laufen nur noch die alten Programme, aber Programme kann man verändern oder löschen.
So ein Weg ist anstrengend, aber viel weniger anstrengend als das eigene Leben in die Selbstaufgabe zu treiben.
Beispiel „es geht schon“
Ines, 58 Jahre alt, alleinstehend pflegt ihre 83 Jahre alte Mutter. Namen sind wie immer frei erfunden, die Geschichte dahinter nicht.
Ines hat noch zwei Geschwister, aber die kümmern sich nicht. Die haben selber Familie und keine Zeit. Eher keine Lust, aber das sagen sie natürlich nicht. Ines ist alleine, also hat sie Zeit. Sie kann für ihre Mutter da sein.
Die ist nicht voll pflegebedürftig, aber sie kommt nicht mehr alleine zum Einkaufen und die Wohnung kriegt sie auch nicht mehr sauber. Ines macht das alles. Obwohl sie voll berufstätig ist, aber ansonsten hat sie doch Zeit, oder? „Es geht schon“, sagt sie sich immer wieder.
Ihre Mutter ist nicht einfach. War sie nie. „Narzisstisch“ würde man sie heute nennen, aber Ines nimmt sie dennoch in Schutz. „Sie hat es ja nie leicht gehabt“.
Ob das eine Entschuldigung dafür ist, dass sie Ines immer wieder übelst beschimpft? Dafür, dass Ines ihr wirklich nichts Recht machen kann? Dafür dass sie ihre eigene Tochter bei den Nachbarn verleumdet, sie anbrüllt, ihr Gegenstände an den Kopf wirft?
Ines blendet all das aus. Muss sie, sonst könnte sie sich nicht kümmern. Und das muss sie doch, oder? So schlimm ist doch ihre Mutter nicht … sie hats ja nie leicht gehabt.
Ines war immer schon das ungeliebte Kind. Immer schon das Kind auf das die Mutter draufgehauen hat. Psychisch und damals auch physisch. Ines konnte schon als Kind nie richtig sein, sie war immer falsch, immer „schuld“. Verzweifelt hat sie versucht, es endlich doch mal richtig zu machen, endlich doch gesehen zu werden, endlich doch geliebt zu werden. Bis heute versucht sie das. Sie merkt es schon gar nicht mehr, sie kennt es ja nicht anders.
Und so merkt Ines gar nicht, wie schnell sie selber abbaut. Wie schlimm es um ihre Gesundheit steht. „Es geht schon“. Klar, es „ging“ immer, irgendwie. Nachlassen kann sie freilich nicht, was würde ihre Mutter sagen? Was die Nachbarn? Dann wäre sie Schuld. Mal wieder. Irgendwann MUSS sie doch geliebt werden! Das geht nicht, also macht sie weiter.
Eigentlich kam sie wegen ganz was Anderem zu mir, ihre Gesundheit macht schon länger schlapp. Aber das Thema mit ihrer Mutter stand schnell mitten im Raum. Diese toxische Abhängigkeit von einem Menschen, der sie immer schon wie Dreck behandelt hat. Von Kindheit an. Diese gefühlte Verantwortung, gepaart mit dem immerwährendem Schuldgefühl.
Ines hat das lange Zeit nicht sehen wollen, da stand immer noch die Hoffnung dahinter, dass es irgendwann aufhört … eine Hoffnung die sich niemals erfüllt. Bis in den Tod nicht und darüberhinaus.
Dieses riesige Thema zu lösen war nicht einfach – grad das Schuldthema nicht – aber Ines hat am Ende ihre Lebensfreude wiederbekommen. Und ihre Gesundheit. Und ihrer Mutter gehts deswegen nicht schlechter als zuvor, die Lösung sieht jetzt nur ganz anders aus als vorher.
Allgemein
Dieses Beispiel ist nicht EINE Geschichte, sie ist viele Geschichten. Dieses Thema ist immens groß aber gesellschaftlich kaum sichtbar. Wer spricht schon darüber? Und zu wem sollte man darüber sprechen? Den meisten Menschen ist es ja nichteinmal bewusst.
Speziell wenn es nicht um offensichtliche Abhängigkeitsverhältnisse geht sondern um ganz subtile. Eltern die nicht pflegebedürftig sind, aber ihre erwachsenen Kinder trotzdem gegen deren Willen „an der kurzen Leine“ halten.
Sie zu ungesunden Verhaltensweisen nötigen, sie herabsetzen, sie steuern und gängeln. Sie regelrecht emotional erpressen. Sie gegen den Willen und die Bedürfnisse der Partner oder eigenen Kinder an sich binden.
Das was bei dir als Kind funktioniert hat, das funktioniert auch noch wenn du erwachsen bist. So lange bis du diese Muster aktiv beendest. Das erfordert Mut und Entschlossenheit und ist ein großer Schritt.
Du wirst dich vielleicht „schuldig“ fühlen und du wirst vielleicht missverstanden, gar angegriffen. Aber nur zu Beginn des Prozesses.
Schuldgefühle
Das bewusste oder unbewusste Erzeugen von Schuldgefühlen in anderen Menschen ist eine extrem wirksame Strategie um zu bekommen was man will. Wenn du es schaffst, deinem Gegenüber einzureden, dass er Schuld daran ist, wenn es dir nicht gut geht, dann hast du dein Gegenüber in der Hand.
Speziell dann, wenn es sich um einen Menschen handelt, der von dir abhängig ist. Dein Kind zum Beispiel. Wenn du es als Elternteil schaffst – und das ist nicht schwer – deinem Kind quasi den „Job“ zu geben, dich glücklich zu machen, dann wird es alles, wirklich ALLES tun um das zu erreichen.
Denn es ist auf dich angewiesen. Es MUSS dich glücklich machen. Ein Volltreffer für narzisstische Eltern. Haben sie dieses Muster mal raus, können sie mit ihren Kindern praktisch alles anstellen, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen.
Das geht bis hin zu physisch misshandelten Kindern, die dennoch die Täter, ihre Eltern, in Schutz nehmen. Oft bis ins Erwachsenenalter hinein. Das führt zu Menschen die selbst als Erwachsene, selbst im hohen Alter immer noch alles tun, um den Erwartungen oder den vermuteten Erwartungen ihrer Eltern gerecht zu werden. Selbst wenn die Eltern längst tot sind.
Solche Muster führen im Extremfall bis zur völligen Selbstaufgabe, in den meisten Fällen aber zu einem subtilen, latenten Leidensmuster. Und das, ohne dass es den Eltern dadurch jemals irgendwie besser ginge.
Hilfe
Es gibt kaum Leute die helfen können, denn die Ursachen für solche Abhängigkeitsverhältnisse liegt hinter dem was die meisten Menschen wahrnehmen, geschweige denn lösen können. Man muss gezielt hinschauen und das was man sieht, auch sehen wollen.
Und dann die Konsequenzen daraus ziehen. Das ist erstmal hart. Aber wie viele Menschen gehen an sowas zugrunde? Wie viele Menschen pflegen ihre Eltern bis in den Tod, nur um dann festzustellen dass sie immer noch ungeliebt sind und sie das Abhängigkeitsmuster auch nach dem Tod der Eltern noch quält. Schlimmer noch als zuvor.
Wie viele Menschen richten sich selbst zugrunde, immer in der Hoffnung, doch noch irgendwann dafür geliebt zu werden?
Spoiler: Das wird niemals geschehen!
Die Liebe die du als Kind hättest erfahren müssen, aber nicht bekommen hast, kannst du später von Aussen nicht mehr bekommen. Das geht einfach nicht. Selbst wenn sich deine Eltern zu Engeln entwickeln würden, es geht nicht.
Du musst sie dir von einer ganz anderen Instanz holen und an die kommst du mit der richtigen Begleitung auch heran. Aber dazu muss man tief gehen. Dazu musst du an die Ursache heran, an deine energetische Basis und die liegt viel tiefer als deine Eltern. Solche Muster bauen sich über sehr lange Zeiträume auf und gehen von einer Generation auf die nächste (oder übernächste) über.
Du kannst so ein Muster nicht auf der Ebene lösen, auf der es entstanden ist. Aber gemeinsam kommen wir da hin, wo du es lösen kannst. Nachhaltig und für immer. Den ersten Schritt zu tun liegt ganz bei dir.
Schreib mir gerne jederzeit, wenn du Fragen hast: mail@gerhard-zirkel.com