Der weiße und der schwarze Wolf

Es gibt da eine Geschichte, die in vielen Varianten aber immer ähnlicher Form kursiert. Oft wird sie in einen indianischen Kontext gestellt, aber sie ist durchaus universell zu verstehen. Und sie ist längst nicht so platt, wie sie nach unzähligen Wiederholungen wirken mag. Ganz im Gegenteil!
Gerhard Zirkel
19.07.2023
Die Geschichte

An einem lauen Sommerabend saß ein alter Indianer mit seinem Sohn am Lagerfeuer. Es war schon dunkel, das Feuer knisterte anheimelnd, die Flammen züngelten in die Höhe, aber die Schatten des umliegenden Waldes waren stockfinster und ein bisschen unheimlich.

Der Alte Indianer sprach zu seinem Sohn: „Die hellen Flammen des wärmenden Feuers und die tiefen, dunklen Schatten des Waldes sind wie zwei Wölfe die in uns wohnen“

Der Sohn schaute ihn fragend an. Nach einer Weile sprach der alte Indianer weiter:

„Der eine Wolf, der schwarze, erscheint uns böse, verschlagen und dunkel. Er arbeitet mit Angst, Gewalt, Unterdrückung, mit Lügen, Intrigen, Neid und Eifersucht. Er mag die Gier, die Arroganz und den Hass. Er sinnt ständig auf Rache ist aggressiv und grausam“.

„Der weiße Wolf erscheint uns gut. Er ist voller Liebe, Zuneigung und Güte. Er liebt die Offenheit, das Vertrauen, das Wohlwollen. Er ist verständnisvoll und sanft, er zeigt Mitgefühl, Frieden, er nimmt Rücksicht, er bleibt stets gelassen. Er bringt Hoffnung, Wärme, Dankbarkeit und Freude“.

„In jedem von uns existieren beide Wölfe, ja in der ganzen Welt existieren sie. Und sie scheinen immerfort miteinander um die Vorherrschaft zu rangeln.

Der Sohn des Indianers dachte lange darüber nach und frage schließlich: „Welcher der beiden Wölfe wird gewinnen?“

Der alte Indianer sah seinem Sohn in die Augen und antwortete: „Es gewinnt der, den du mehr fütterst“

Hilft ignorieren?

Jetzt könnte man auf die Idee kommen, den schwarzen Wolf einfach zu ignorieren. Was gar nicht so sehr an den Haaren herbeigezogen ist, speziell in der spirituellen Szene wird das ganz häufig praktiziert. Füttere ihn nicht und er wird unweigerlich verhungern. Das klingt leicht, so machen wir das!

Immer positiv denken, immer lächeln, immer in der Liebe sein. Bist du das nicht, musst du bei dir schauen und das gaaanz schnell lösen! Keinesfalls irgendwelche Nachrichten schauen, niemals um Politik kümmern, schon gar nicht um „Verschwörungstheorien“ denn die wollen dich ja nur aus der Liebe bringen. Niemandem zuhören, der Bedenken äussert oder gar warnt. Um Geld kümmern wir uns auch nicht, das ist ja auch dunkel und böse und und und …

Sprichst du mögliche Probleme an, wird dir gerne mal vorgeworfen, doch nur das Negative zu sehen und dich nur auf das Problem zu konzentrieren. Oder gar, dir eine dunkle Zukunft zu manifestieren.

Da steckt schon ein bisschen Wahrheit drin. Denn immer, wenn du dich mit einem Problem beschäftigst, sei es eines bei dir oder eines der großen weiten Welt, fütterst du erstmal den schwarzen Wolf. Immer wenn du Bedenken hast, zweifelst, eine düstere Zukunft siehst oder schlicht „schwarz siehst“, fütterst du den schwarzen Wolf.

Aber geht es denn ganz ohne ihn? Kann man ihn wirklich verhungern lassen?

Yin und Yang

In China heißen diese beiden Wölfe übrigens Yin und Yang und seltsamerweise spricht dort niemand davon, eines von beiden verhungern zu lassen. Ganz im Gegenteil, beide scheinen gleich wichtig zu sein und dramatischer noch: Sie entstehen auseinander und zwar immer und immer wieder.

Das Dunkle entsteht aus dem Hellen und das Helle aus dem Dunklen. Auch im äußersten Weiß ist immer der Samen des Schwarz enthalten und umgekehrt. Ohne das Schwarze kann das Weiße nicht existieren und umgekehrt.

Warum also sollten wir versuchen, den schwarzen Wolf verhungern zu lassen? Und was können wir stattdessen tun?

Das Problem benennen und dann lösen

Der Weg, den ich für den besten halte ist der, zuerst das Problem zu analysieren und zu benennen und dann nach einer Lösung zu suchen.

Wenn ich also sehe, dass in meiner Lebensrealität etwas aus dem Ruder läuft, sei es in mir, in meiner Familie oder auch global, dann schaue ich mir zuerst das Problem ganz genau an. Ich denke darüber nach, was kommen könnte, ich fühle vor allem tief hinein, was kommen könnte.

Was ich da fühle ist natürlich nie DIE EINE Zukunft. Es ist eine mögliche Zukunft, ein wahrscheinliches Szenario. Und es gibt immer ein wahrscheinliches Szenario. Das schaue ich mir genau an, auch wenn es noch so dunkel erscheint.

Damit füttere ich natürlich erstmal den schwarzen Wolf, das ist klar. Und ein Stück weit manifestiere ich diese wahrscheinliche Zukunft auch. Ich bekomme vielleicht Angst, zweifle, verliere vorübergehend gar den Mut. Speziell dann, wenn mir das Problem übermächtig erscheint und das kommt in den besten Familien vor. Da kann so ein schwarzer Wolf schonmal recht groß und grimmig erscheinen.

Wichtig ist der nächste Schritt. Denn wenn ich erkenne, was geschieht und was daraus entstehen wird, kann ich beginnen, den weißen Wolf zu füttern. Ich kann mir überlegen, was ich tun kann um meine Situation zu verbessern.

Das bedeutet nicht zwingend, dass ich diese dunkle Zukunft grundsätzlich verändern oder auflösen kann. Aber ich kann immer meinen Bezug dazu verändern. Ich kann mich vorbereiten, mein Leben ändern, meinen Ort ändern, mein Verhalten ändern, mein Denken ändern. Ich kann mich wappnen oder aus der Gefahrenzone bringen.

Ich kann zuweilen durch kleine Veränderungen dafür sorgen, dass mich der schwarze Wolf hernach gar nicht mehr tangiert. Ich kann mir meine Zukunft manifestieren.

Ein Beispiel

Nehmen wir ein ganz greifbares Beispiel. Nehmen wir die Inflation. Unser Geld wird ja beständig weniger wert, zumindest ganz oberflächlich betrachtet. Momentan geht das relativ zügig, das merken wir alle im Geldbeutel.

Jetzt schauen wir uns zuerst den schwarzen Wolf an. Analysieren, warum das geschieht, wie es geschieht, wo es geschieht und bekommen so einen Überblick wo es hinläuft, wenn sich nichts ändert. Vielleicht merken wir dabei schon, dass die Situation keineswegs neu ist, sowas hat es schon oft gegeben. Dennoch hat es natürlich eine ganz andere Qualität wenn du selbst in der Situation steckst, anstatt nur in Büchern darüber zu lesen.

Wir füttern also erstmal kräftig den schwarzen Wolf und wenn unsere Existenz in Gefahr scheint, wird der wirklich groß. Aber – und das ist der weit wichtigere Schritt – wir konzentrieren uns danach auf mögliche Lösungen. Und das ist der weiße Wolf.

Denn Lösungen gibt es immer, natürlich abhängig von der eigenen Lebenssituation. Wie haben es die Menschen früher in ähnlichen Situationen gemacht? Und zwar die, die hernach noch gut dastanden.

Wie können wir uns oder unser Vermögen so verlagern, dass es der schwarze Wolf nicht erwischt? Was können wir tun um der Situation auszuweichen oder ihr zu begegnen? Das sind alles Fragen, die zwar auf der Kenntnis des schwarzen Wolfes aufbauen, aber den weißen Wolf füttern.

Ganz wichtig ist es, auch ins Handeln zu kommen. Egal ob es um Aspekte im Aussen geht oder um Aspekte in dir. Egal ob es um den „schnöden Mammon“ geht oder um deine Gesundheit oder um deine Beziehung oder gar um dein Leben. Es gibt immer einen weißen Wolf, den du füttern kannst.

Und darum geht es bei der ganzen Sache. Füttere den weißen Wolf, aber kenne auch den schwarzen gut.

Die Endlösung

Jetzt könnte man erneut auf den Gedanken kommen, „das Böse“ endgültig besiegen zu wollen. Ja, das ist reizvoll und zahllose Bücher und Filme thematisieren das. Am Ende ist der Böse besiegt und der Gute triumphiert.

Aber macht das Sinn? Kann in einer dualen Welt das Gute ohne das Böse existieren? Und woran machen wir dann fest, was das Gute ist? Wie erkennen wir es? Wie erkennen wir das Licht, ohne den Schatten?

Und wer definiert überhaupt Gut und Böse? Wie sieht das Spiel aus Sicht „der Anderen“ aus? Wie sieht der schwarze Wolf seine Welt? Und wieso soll gerade er sterben? Meint er es vielleicht auch nur gut? Ist der schwarze Wolf wirklich für alle Menschen der schwarze Wolf? Oder ist er für den einen schwarz, für den anderen weiß und für den dritten gar grau?

Das Böse auszurotten kann nicht die Lösung sein, denn das funktioniert in einer dualen Welt schlichtweg nicht. Sonst wäre sie ja nicht mehr dual.

Was aber immer funktioniert ist die beständige Arbeit an dir selbst, das Beschäftigen mit beiden Wölfen, das sich neu Positionieren innerhalb der gegebenen Möglichkeiten. Das Anpassen, das Manifestieren und das beständige Nachjustieren der eigenen Lebensrealität.

Das Vertrauen in den richtigen Lauf des Universums und in die eigene Handlungsfähigkeit. Das Zusammenleben mit beiden Wölfen. Das Akzeptieren des schwarzen Wolfes, das genaue Kennen des schwarzen Wolfes und das anschließende Konzentrieren auf den weißen Wolf.

Das Freimachen von unbewussten Bindungen an den schwarzen Wolf. Das Arbeiten in der eigenen Ahnenlinie, an den eigenen Glaubenssätze, an den eigenen Denk-, Fühl- und Verhaltensmustern. Das konstruktive Zusammenspiel zwischen Denken und Fühlen, das gezielte Handeln in der materiellen Welt, innerhalb des eigenen Rahmens und das beständige Ausweiten des eigenen Rahmens.

DAS funktioniert! Es bedeutet beständige Arbeit, beständige Weiterentwicklung, aber Handlungsfähigkeit erzeugt Freiheit.

SEI der weiße Wolf!

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