Das Böse in mir, oder: die Sache mit den Schattenanteilen

„Töte sie!“, die Anweisung ließ keinen Zweifel zu, absolut keinen. Töten sollte sie, das war klar. Angefangen hatte es schon vor einem halben Jahr. Diese Aggression, dieser Hass, der sich plötzlich einen Weg aus ihr heraus bahnte, das war nicht mehr zu übersehen gewesen.
Gerhard Zirkel
21.10.2019

Gewehrt hatte sie sich, gekämpft, und dennoch kam die Anweisung tief aus ihr selbst heraus immer und immer wieder: „töte sie!“ … „sie alle!“. Immer noch versuchte sie mit aller Kraft, dieses Drängen zu unterdrücken, aber wie lange würde sie das noch durchhalten.

Da hatten sie leicht reden, ihre Freundinnen aus dem Meditationskreis. „Du muss Licht und Liebe zulassen“, „du musst Licht in deine Schattenanteile bringen“, „du musst dich selbst finden“ … so oder so ähnlich predigten sie es ihr immer wieder. Und sie wollte das ja auch, mit aller Kraft. Das was sich da in ihr breitzumachen schien wollte sie mit aller Kraft bekämpfen, unterdrücken, es durfte nicht sein.

Inzwischen bemerkte es schon ihre Familie, ihr Mann sah sie manchmal so komisch an, wenn sie ihre zwei Kinder mal wieder aus dem Nichts heraus angebrüllt hatte. Danach weinte sie, sie wollte das alles nicht, aber den Kampf würde sie verlieren, daran bestand kein Zweifel mehr. „Töte sie alle!“ … „Töte sie!“ …

Daran würde auch der Schamane nichts ändern können, über den sie bei Facebook praktisch gestolpert war. Obwohl, er schien eine andere Sicht auf die Dinge zu haben, als ihre Meditationsfreunde. Er sprach davon, den Schattenanteil anzuhören, zu akzeptieren, zu integrieren.

„Töte sie!“ … aber er wusste auch nichts davon, wie schlimm es um sie wirklich stand, er schien die Gefahr zu unterschätzen. Wie sollte sie sowas integrieren. Sie war drauf und dran ihre Familie umzubringen und weiß Gott wen noch. Da gab es keinen Ausweg. Ganz sicher nicht.

Dennoch ging sie zu ihm. Helfen konnte er ihr nicht, aber er sollte kapieren, dass nicht alles so einfach zu lösen war wie er es sich in seiner heilen Schamanenwelt ausmalte. Er würde schon sehen.

Nun saß sie also bei ihm, der erste Termin und was schlug er vor? Eine schamanische Reise direkt zum Schatten. Dabei hatte sie ihm brühwarm erzählt, dass es darum ging, Menschen zu töten. „Töte sie!“, ganz deutlich, sogar jetzt, als sie vor diesem Typen saß. Ihn schien das gar nicht zu beeindrucken, ja würde er denn nie verstehen! Kapierte er es nicht? Dass auch er in Gefahr war.

Offenbar nicht, denn ganz ungerührt begann er mit seiner Arbeit. Einen „heiligen Raum“ würde er öffnen und danach direkt zum Thema reisen. Sie sollte sich einfach entspannen und sich keine Sorgen machen. Keine Sorgen?!!

Schnell wurde sie vom monotonen Klang der Trommel hineingezogen, in einen Zustand, der ihr tatsächlich etwas Entspannung brachte, Entspannung die sie die letzten Monate ganz und gar nicht mehr hatte. Gesehen hatte sie nichts während dieser Reise, aber der Befehl zu töten kam auch nicht. Fast schien es so, als ob diese Stimme gerade abgelenkt wäre. Sollte er tatsächlich gerade mit ihr sprechen?

Offenbar hatte er genau das getan, zumindest behauptete er das nach der Sitzung. Er hätte mit genau diesem Schatten gesprochen und dieser wäre hoch erfreut gewesen, endlich wahrgenommen zu werden. Der Schamane verglich das mit einem Kind das ignoriert würde. Das würde so lange immer lauter schreien bis es gehört würde. „Netter Vergleich“, dachte sie bei sich, „offenbar hat ers immer noch nicht kapiert“. Kein Kind! Nein, eine Stimme die sie zwang zu töten. Auch wenn sie das gerade im Moment nicht zu tun schien, seltsam.

Auch in den kommenden Tagen schien die Stimme in den Hintergrund getreten zu sein, sollte der Schamane möglicherweise doch recht haben? Das würde sie herausfinden, denn der nächste Termin bei ihm stand an und so langsam wurde sie doch neugierig.

Der zweite Termin verlief ähnlich wie der erste, nur sollte sie dieses Mal versuchen, während der Trommelreise selbst einen Kontakt zu ihrem Schattenthema zu bekommen. Leichter gesagt als getan, so wirklich war sie nicht überzeugt das zu können. Konnte sie auch nicht, während der ganzen Reise keine Spur von irgendeinem Schatten oder auch nur einer bösen Gestalt. Dafür kamen ihr ihre Großeltern in den Sinn, die schon lange tot waren. Und sie sah eine Menge Menschen die sie nicht zuordnen konnte. Keiner von ihnen schien irgendwie böse zu sein, ein paar davon waren sichtlich verzweifelt, aber das wars auch schon.

„Wohl doch ein Reinfall“, dachte sie, nachdem sie wieder saß. „Kein Schatten, nicht mal was Böses, wo auch immer ich war, jedenfalls bei niemandem der mich zum Töten veranlassen würde“. Dennoch schien der Schamane ganz begeistert zu sein. Wir kämen der Sache näher? Ernsthaft?

Er hatte sie auch gesehen, diese Menschen. Und er erklärte ihr, dass das ihre Vorfahren, ihre Ahnen wären. Und sie alle hätten ihre Themen gehabt, sie alle hätten gelitten. Sowohl in der materiellen Welt als auch auf der Ebene der Seele. Und sie alle hätten kaum die Möglichkeit gehabt, diese ganzen Dinge aufzuarbeiten. Anderes war wichtiger, Kriege, Hunger, Armut, die nähere Vergangenheit war wohl doch schlimmer als man sich die „gute alte Zeit“ so vorstellte.

Sie alle hätten schlimme Dinge mit sich herumgeschleppt, mussten sie verdrängen um zu funktionieren, um zu überleben. Und solche Themen würden von Generation zu Generation weitergegeben. Sie war gar nicht so begeistert das alles zu hören, was sollte das mit ihr zu tun haben?

Litt sie unter den Erlebnissen aus längst vergangenen Tagen?Aber warum töten? War das am Ende ein Schrei aus längst vergangenen Tagen? Hatte der Schamane Recht? Zumindest schien die Stimme nun zu schweigen. Und das tat sie auch in den folgenden Sitzungen, in denen sie gemeinsam daran arbeiteten, die ganzen Themen aus alter und neuer Zeit aufzulösen. Vieles davon besaß gar keine Relevanz mehr, vieles wollte nur gesehen und anerkannt werden. Langsam begann sie zu verstehen.

Das frühere „Töte sie“ wurde zur Erkenntnis, dass sie töten könnte, jeder Mensch könnte das. Aber der Druck verschwand, der Zwang war nicht mehr da. Und schließlich wurde die Möglichkeit zu töten zu einer ebenso theoretischen Möglichkeit wie das Fliegen eines Flugzeugs oder das Fahren eines Autos. Ein Mensch kann es tun, wenn er sich dazu entscheidet, aber die Freiheit der Entscheidung hat er selbst! Immer!

Sie hatte verstanden! Endlich hatte sie es verstanden. Und was für Möglichkeiten sich daraus ergaben! Sie konnte nun all die Gedanken und Träume und Zwänge die sie tief in sich vergraben hatte ansehen und selbst entscheiden wie und ob sie sie leben wollte oder nicht.

Und die Moral von der Geschicht?

Dieses Beispiel mutet dir vielleicht extrem an. Ein Befehl zum Töten ist auch extrem. Was ich in leicht überspitzter Form geschildert habe, ist allerdings ein extrem häufiges Prinzip.

Oder hattest du noch nie einen dieser „dunklen“, verbotenen Gedanken? Nicht immer sind es welche, die zur Gewalt aufrufen. Nein, ganz im Gegenteil. Vielleicht geht es sogar um Freude, Lust, Sinneserleben oder gar um Geld und Reichtum. Oder tatsächlich um Gewalt, damit wärst du beileibe nicht alleine.

Darfst du denn deine Lebensfreude ausleben? Ja? Auch dann, wenn deine Familie krank ist? Ahh … da kommen schon die Zweifel. „Nein, dann natürlich nicht“. Und wenns finanziell noch nicht läuft, darfst du dann Geld ausgeben? Nein? Auch so ein dunkler Gedanke, oder?

Hast du schonmal jemanden sexy gefunden, obwohl du in einer Beziehung bist? Bäm! Auch ein verbotener Gedanke.

Kannst du dir mehr nehmen, als deine Mitmenschen? Kannst du lauter sein als sie? Darfst du Menschen ablehnen, Freundschaften kündigen, Leute nicht mögen? Darfst du dem Depp sagen, dass er ein Depp ist?

Darfst du reich sein, Ressourcen verschwenden, ein Großmaul sein, ein Egoist? Ahhh … da sind ganz viele dieser dunklen, verbotenen Gedanken.

Und weißt du was? Die sind zwar ganz real, aber es sind gar nicht deine. Denn deine eigenen Gedanken sind weder dunkel noch verboten. Warum sollten sie auch?

Nein, sobald diese Gedanken ein Schattendasein fristen, sind sie entweder erlernt oder ererbt. Und in beiden Fällen kann man sie verarbeiten. Was gewaltig viel Energie bei dir freisetzt, denn sie alle immer wieder zu unterdrücken oder gar heimlich auszuleben zehrt doch arg an deiner Lebensenergie.

Erkennst du dich wieder? Dann schreib mir. Jetzt.

3 Kommentare zu “Das Böse in mir, oder: die Sache mit den Schattenanteilen

  1. Failer Sebastian Oktober 21, 2019 um 10:15 pm Uhr

    Passt aufs Auge zu mir der Text! Hmmmm?!Machst mich fertig; Danke dafür

  2. Matthias Oktober 22, 2019 um 7:03 am Uhr

    Schöne Geschichte. Ich denke mal, dass sie war ist. Das erinnert mich daran einfach hinzuschauen und sich immer wieder zu sagen:du hast die Wahl!

  3. Sabrina Oktober 22, 2019 um 1:18 pm Uhr

    Lange, es begann in der
    Kindheit fuhr ich immer wieder erschreckt hoch und sagte laut: Sie ist tod.
    Es geschah jedes mal, wenn Situationen für mich unübersichtlich waren, ich Angst vor Verantwortung oder dem nächsten Schritt hatte.
    Ich schämte mich sehr dafür und erzählte es niemanden.
    Es war ein langer Weg zu mir selbst… doch er hat sich gelohnt. Das erdrückende Gefühl verschwand indem ich dem Tod seinen Schrecken nahm und erkannte, dass Tod nicht der Gegenspieler von Leben ist. Tod ist eine Gabe wie Geburt eine Gabe des Lebens ist.
    So bin ich dankbar für jeden Atemzug und für alle die vor mir in Begegnung erscheinen.
    Ja Du bist ein Wunder.

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